Der Landflucht entgegen: Bang Starter Center
Schnupper-Ausbildung für Berufseinsteiger
Mittelstandsunternehmen finden immer schwerer Auszubildende – vor allem in der Provinz. Nun gibt es – neben mehr Lohn – weitere Lösungswege.
Dieser Text ist zuerst im Handelsblatt erschienen.
Einen roten Teppich muss man den Azubis nicht ausrollen, meint Markus Kamann, aber eine ordentliche Einweisung wäre schon sehr wichtig. Der Mann muss es wissen, er beschäftigt sich mit dem Thema berufliche Ausbildung seit mehr als 20 Jahren mit seinem Unternehmen gpdm und kommt gerade aus Vietnam.
Er hat den Politikern dort nahegebracht, wie sinnvoll die duale Ausbildung mit einem Mix aus Berufsschule und praktischer Arbeit ist. Tatsächlich war und ist die duale Ausbildung in Deutschland stets ein Vorzeigeobjekt, sogar ein Exportschlager. Nun droht ausgerechnet dem Rückgrat des deutschen Mittelstands, das Rückgrat der Fachkräfte wegzubrechen: die Auszubildenden.
Im vergangenen Ausbildungsjahr blieben rund 57.700 Stellen unbesetzt. Das sind rund 8.700 oder knapp 18 Prozent mehr als im Vorjahr. Damit ist erstmals nach 1994 die Gesamtzahl der gemeldeten Ausbildungsstellen höher als die Zahl der im Laufe des Beratungsjahres gemeldeten Bewerber.
Das Problem: In der Provinz, wo viele Mittelständler wirtschaften, fehlen mehr Azubis als in den Städten. Gleich mehrere Faktoren begünstigen den Trend: Immer weniger Schüler besuchen Real- und Hauptschulen, immer mehr strömen an die Gymnasien und von diesen immer mehr an die Hochschulen. So bilden laut Statista die Gymnasien die größte Gruppe der weiterführenden Schulen in Deutschland. Hauptschulen schließen inzwischen oder fristen ein Schattendasein, weil ihnen starke Schüler fehlen. Gesamtschulen sind bei betuchten Eltern oft nicht so angesehen – es muss schon das Gymnasium für den Nachwuchs sein.
Schulabgänger zieht es in Städte
Hinzu kommt: In der Provinz, wo viele mittelständische Unternehmen wirtschaften, suchen viele Schulabgänger das Weite – meist die nächstgrößere Stadt, manche die Metropolen. Das zeigen die Ergebnisse mehrerer Studien zur Landflucht. Einige junge Erwachsene kommen in der Zeit der Familiengründung zurück, erzählt Ursula Frank, Projektmanagerin für Forschungs- und Entwicklungskooperationen beim Automatisierungsspezialisten Beckhoff in Verl.
„Europa steht im Wettstreit um die technologische Führerschaft an der Seitenlinie“
Selbst ein großer Mittelständler wie Beckhoff setzt auf ein Projekt, das Kamann vor allem für Mittelständler entwickelte, die keinen großen Namen tragen. Das Projekt heißt „Bang-Starter-Center“. Das ist das Akronym für „Berufliches Ausbildungsnetzwerk im Gewerbebereich“.
Der Prototyp einer solchen Berufserlebniswelt zum Anfassen und Mitmachen, der von mehreren Mittelständlern finanziert, genutzt und bespielt wird, steht in Delbrück. Inzwischen sind noch weitere in Bad Wünnenberg, Bewerungen, Peine, Herford und sogar in der Großstadt Dortmund geplant. Elf sind es insgesamt, sagt Kamann.
Berufe als Erlebniswelt
Im Delbrücker Bang-Starter-Center, das in einer früheren Hauptschule untergebracht ist, können Schüler in Erlebniswelten der Berufe reinschnuppern. Das Ganze ist von den teilnehmenden Mittelständlern auf dem neuesten Stand der Technik eingerichtet.
Wie fühlt es sich an, Leute zu pflegen? Was ist anstrengend am Dachdeckerberuf? Kann ich mich für Technik oder Metallverarbeitung begeistern oder doch eher für eine Arbeit mit Holz? Bin ich ein Schreibtischtäter? Was bedeutet Digitalisierung für die Logistikbranche?
Umliegende kleine und mittelständische Unternehmen schicken alle vier bis sechs Wochen ihre Azubis dorthin, um den Schülern die Ausbildungsberufe näherzubringen. Beckhoff sticht mit seinen rund 4300 Mitarbeitern und 916 Millionen Euro Umsatz heraus, macht aber dennoch gerne mit bei „Bang“. Bei einem Wachstum von 15 Prozent pro Jahr braucht das Unternehmen oft neue Mitarbeiter und auch neue Auszubildende.
Sie alle müssen eines mitbringen: „Begeisterung für Technik“, sagt Ursula Frank von Beckhoff. Und natürlich setzt der Automatisierungsspezialist auch auf Studierende, aber „handwerklich begabte, gut ausgebildete Mitarbeiter sind trotzdem weiter wichtig“, betont Frank. Dass viel mehr Schüler und deren Eltern glauben, es müsse immer das Studium sein, sei nicht unbedingt eine positive Entwicklung.
In Delbrück merken die Schüler ziemlich schnell, was ihnen liegt und was nicht. Und sie wissen auch gleich, wer die Ausbildungen – allein oder zusammen mit anderen Mittelständlern – anbietet. Viele Mittelständler sind dankbar für „Bang“. Sie wirtschaften oft nicht nur im Schatten großer Städte, sondern auch im Schatten großer Konzerne oder deutlich größerer Mittelständler.
Nimmt die Zahl der Jugendlichen zum Beispiel in der Gegend des ostwestfälischen Harsewinkel ab, dann wollen die verbleibenden Jugendlichen lieber beim größten Arbeitgeber in der Region in die Lehre gehen als woanders, bringt Kamann das Problem auf den Punkt. In diesem Fall wäre das der Landmaschinenhersteller Claas.
Mittelständler empfehlen sich gegenseitig
Das gilt auch für andere Regionen: So empfiehlt der Autozulieferer Continental in seinem Werk in Babenhausen überzähligen Bewerbern, auch bei zwei angrenzenden Mittelständlern ein Angebot abzugeben. Beckhoff empfiehlt ebenfalls Bewerbern, die eher in die Richtung Maschinenbau tendieren, befreundete Mittelständler als künftige Arbeitgeber.
Es gibt aber noch weitere Gründe, warum immer mehr Mittelständler in der Provinz für solche Kooperationen offen sind, um das Interesse an der dualen Ausbildung zu fördern. So kann das Möbelunternehmen Reme mit seinen 240 Mitarbeitern, das zum Beispiel auch für Ikea die Schubkastenführungen herstellt, allein eher schlecht ausbilden. Mit dem Netzwerk gehe es dann im Verbund, betont Ausbildungsleiter Michael Fritze.
„KI ist ein Problemlöser, aber kein Selbstdenker“
Die Stadtoberen, die den Weg frei machen für Starter-Center, haben nicht nur Schüler, sondern auch Flüchtlinge, Schul- und Studienabbrecher, Ausbildungswechsler und auch Schulverweigerer als Zielgruppe erkannt. Das ist nicht unbedingt einfach, aber trotzdem gebe es Erfolgserlebnisse, erzählt Kamann. Von 50 Schulabbrechern gingen inzwischen sechs in die Lehre und 18 wieder zur Schule, weitere acht besuchten eine Berufsvorbereitung.
Der Ausbildungsprofi macht aber noch auf ein anderes Problem aufmerksam: Viele Ausbildungsleiter hätten gar nicht mehr selbst eine duale Ausbildung absolviert. Die Technikermeister nach dem Bologna-Prozess hätten sich ja selbst gegen eine Ausbildung entschieden. „Das merkt man“, sagt Kamann. „Da kann der Azubi im zweiten Lehrjahr oft anschaulicher vermitteln.“
Er hat bei seinen vielen Treffen mit Unternehmern aber auch festgestellt, dass noch längst nicht alle Mittelständler intelligent nach Auszubildenden suchen. Es nütze nichts, zu sagen, da mussten wir auch früher durch. Die Jugendlichen müssen heute eben nicht mehr irgendwo durch. Sie entscheiden, wollen sich wohlfühlen, fallen auch weicher, wenn sie sich nicht entscheiden können. „Wenn die Unternehmer intelligenter anwerben, willkommen heißen, qualifizieren und binden würden, hätten sie weniger Fachkräfteprobleme“, ist Kamann überzeugt.
„Wir leben und arbeiten multilokal“
Das Problem: Der Azubi-Mangel von heute ist der Fachkräftemangel von morgen. Daher haben Berufserlebniswelten noch weitere Zielgruppen in den Blick genommen – sogenannte Nachqualifikanten, also Menschen, die ihre Berufe – manchmal aus gesundheitlichen Gründen – wechseln oder weil sie in einem Berufsleben bis 67 Neues ausprobieren.
Auch da können Zentren wie das „Bang“ in Delbrück, das 220 Tage im Jahr geöffnet hat, helfen. Im ersten Jahr hat es mehr als 1400 interessierte Schüler, Flüchtlinge oder andere Zielgruppen in Kontakt mit den Berufen gebracht und auch Ferienprogramme angeboten. Und weil die Digitalisierung zugleich immer mehr gewerbliche Berufe erreicht, denkt Kamann weiter, könnten solche Center, die auf dem neuesten Stand sind, auch vieles vorempfinden, was in realen Unternehmen noch Zukunftsmusik ist.