ARTISENSE: KÜNSTLICHE INTELLIGENZ IM VERGLEICHSTEST
So schneiden deutsche KI-Start-ups im internationalen Vergleich ab
Immer mehr junge Unternehmen in Deutschland befassen sich mit Künstlicher Intelligenz. Eine Studie aber zeigt: Noch sind die Start-ups klein – und schwach finanziert.
Wenn wir Menschen in die Welt schauen, nimmt unser Auge nur Farbe und Licht wahr. Unser Gehirn kombiniert die Eindrücke mit seinen Erfahrungen, macht dreidimensionale Objekte daraus und verortet uns so in der Welt. Wenn sich Autos selbst durch den Verkehr steuern sollen, müssen sie lernen, wie ein Mensch zu sehen. Sie müssen Datenpunkte einsammeln, und dann müssen sie sie richtig interpretieren – mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI).
Wie schwierig das ist, zeigen tödliche Unfälle wie der des Tesla-Fahrers, dessen Wagen vor dreieinhalb Jahren in den Anhänger eines Lasters raste, weil der Fahrassistent das Hindernis für ein Verkehrsschild hielt. „Mit unserer Software wäre das nicht passiert“, behauptet Till Kaestner. Gemeinsam mit dem Informatikprofessor Daniel Cremers und dem früheren Audi-Entwickler Andrej Kulikov hat er das Start-up Artisense gegründet.
Ihre Technologie verwandelt die Kamerasignale, die Autos, Roboter oder Rasenmäher unterwegs empfangen, in 3D-Informationen. Die Software sei nicht nur sehr genau, sie sei auch günstiger als konkurrierende Systeme, sagt Kaestner. Artisense beschäftigt weltweit knapp 50 Mitarbeiter.
Relativ klein, relativ schwach finanziert
Geforscht und entwickelt wird in München. Im vergangenen Jahr haben die Gründer eine erste Finanzierungsrunde in Höhe von 4,1 Millionen Euro abgeschlossen. Damit ist die Firma ein Prototyp eines deutschen KI-Start-ups. UnternehmerTUM, das Zentrum für Gründung und Innovation an der Technischen Universität München, hat für 2019 zum zweiten Mal eine Bestandsaufnahme der Branche vorgenommen und festgestellt.
Immer mehr Start-ups in Deutschland beschäftigen sich mit Künstlicher Intelligenz, die meisten in Berlin oder München. Im internationalen Vergleich aber sind sie relativ klein – und ziemlich schwach finanziert.
Insgesamt sind 214 KI-Start-ups in der Datenbank gelistet. Das sind 62 Prozent mehr als im Vorjahr. Für eine Industrienation mit 80 Millionen Einwohnern scheint es wenig. Zumal Künstliche Intelligenz nicht erst seit gestern als Megatrend gilt. Die Anzahl an Firmen, die von sich behaupten, mit KI zu arbeiten, sei größer, sagt Andreas Liebl, Chef der Initiative „appliedAI“ an der UnternehmerTUM. „40 bis 60 Prozent davon behaupten das aber hauptsächlich zu Marketingzwecken.“
Die Definition ist nicht einfach, zumal Künstliche Intelligenz kein Produkt ist, sondern eine Technologie, die in jeder Branche zum Einsatz kommen kann. Auf den ersten Blick ist schwer zu erkennen, wie innovativ ein Ansatz wirklich ist. Ausgewählt wurden die Firmen darum von einer Jury, bestehend aus Wissenschaftlern und Investoren.
Die deutschen KI-Start-ups haben in den vergangenen zehn Jahren Risikokapital in Höhe von 1,2 Milliarden Euro eingeworben. Wie wenig das ist, zeigt ein Vergleich: Das chinesische Start-up Sensetime, ein führender Anbieter von KI zur Gesichtserkennung, hat allein seit dem Jahr 2017 schon 2,1 Milliarden Dollar erhalten – von chinesischen Risikokapitalgebern und Konzernen wie Alibaba und Qualcomm. Das Unternehmen hat über 2000 Mitarbeiter. Von den deutschen KI-Start-ups beschäftigen nur vier Prozent mehr als 100 Leute.
„Deutschland steht gut da“
Das Verblüffende daran ist: Die deutschen Forscher beschäftigten sich schon lange mit dem Thema. Einer Untersuchung von Skopus aus dem letzten Dezember zufolge werden die meisten wissenschaftlichen Papiere zum Thema KI noch immer in Europa veröffentlicht. 2017 waren es mehr als 17.000. Aus China kamen schon über 15.000, aus den USA etwas mehr als 10.000.
„Technologisch stehen wir in Deutschland gut da“, sagt Andreas Liebl, „aber wir stehen vor zwei Schwierigkeiten.“ Zum einen fehlten hierzulande die ganz großen KI-Start-ups. Es mangele an Risikokapital, an Datenmaterial, das gebraucht wird, um selbstlernende Algorithmen zu trainieren – und nicht zuletzt an Ambitionen. „Viele Gründer denken nicht groß genug“, findet Liebl.
„KI ist ein Problemlöser, aber kein Selbstdenker“
Sie konzentrierten sich häufig auf den deutschen Markt und auf das Lösen von Nischenproblemen. So entstünden vielleicht solide Geschäftsmodelle, aber keine neuen Plattformen oder Infrastrukturen. Anders gesagt: Während Waymo, Uber und Tesla am selbstfahrenden Auto bauen, kann Artisense nur einen Teil der Software dazu liefern – bislang jedenfalls.
Zum anderen, meint Andreas Liebl, gebe es hierzulande noch zu wenig Gründer, die aus der Industrie kommen: „Wir brauchen Leute, die wissen, wo die Anwendung von Künstlicher Intelligenz sinnvoll ist.“ So sind bislang nur etwas mehr als fünf Prozent der KI-Start-ups im Bereich Fertigung und Industrie tätig, auch wenn ihr Anteil im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen ist. Im Bereich Transport und Mobilität stieg der Anteil immerhin von 6,1 auf 9,3 Prozent.
Berlin und München sind die deutschen „KI-Hotspots“
Bedenkenswert ist in dem Zusammenhang auch die Konzentration der KI-Start-ups auf die Standorte Berlin (40,2 Prozent) und München (26,6 Prozent). Mit deutlichem Abstand folgen Karlsruhe und Hamburg. Die Hochburgen des industriellen Mittelstands drohen abgehängt zu werden. „Der zunehmende Fokus auf Berlin und München zeigt, dass sich viele Regionen schwertun, attraktive Rahmenbedingungen zu schaffen und KI als Zukunftstechnologie wirklich in der Breite zu verankern“, sagt Liebl.
Das Beispiel der drei Artisense-Gründer zeigt, wie wichtig ein Ökosystem aus Forschung, Industrie und Start-ups ist: Andrej Kulikov hat 15 Jahre bei Audi in der Entwicklung gearbeitet. Daniel Cremers ist Inhaber des Lehrstuhls für Bildverarbeitung und Künstliche Intelligenz an der TU München.
Das führe dazu, dass Großkonzerne wie Siemens oder Audi über ihre Investmentarme lieber in Firmen aus dem Silicon Valley investierten statt in deutsche Start-ups. Umgekehrt hätten die Fachabteilungen oft Probleme, mit jungen, kleinen Firmen zusammenzuarbeiten.
Solange die deutschen KI-Start-ups keine Kunden gewinnen und ihre Produkte auf den Markt bringen können, sind sie weniger attraktiv für Investoren und können weniger stark wachsen – ein Teufelskreis, so sieht es auch Andreas Liebl. Abhilfe schaffen sollte seiner Meinung nach auch der Staat, und zwar als Auftraggeber. „Das ist ein riesiges Investitionsvehikel, das uns fehlt“, sagt Liebl.
Dass das Start-up als offiziellen Hauptsitz trotzdem nicht München, sondern San Francisco gewählt hat, hat viele Gründe – einer davon ist die fehlende Innovationskultur in Deutschland. „Wir Deutschen haben aus unserer Ingenieurs-Mentalität heraus eine viel zu niedrige Fehlertoleranz und gleichzeitig eine starke Neidkultur“, sagt Kaestner.
Damit Deutschland bei der Künstlichen Intelligenz nicht abgehängt werde, sei es wichtig, dass KI-Start-ups sich ausprobieren könnten: „Lernende Systeme müssen lernen können.“